Geschichte der Russlanddeutschen

Auswanderung der Deutschen

Teil III 1917 - 1955

6. Die Nachkriegsentwicklung bis zur Auflösung des Sonderregimes für die Russlanddeutschen 1955

6.2 "Repatriierung" von Russlanddeutschen nach Kriegsende

6.2.1 Auszüge aus der persönlichen Schilderung des Anton Bosch zur Repatriierung

anton bosch und seine mutter 1949
  "Die Russen kamen auf Panjewagen mit kleinen Mongolenpferden am dritten Tage [nach dem Abzug der Amerikaner Ende Juli 1945 – d. Verf.] in den Raum zwischen Weißenfels-Naumburg.-Querfurt, begannen bei den Einwohnern nach Alkohol zu suchen und nahmen alles mit, was nicht niet- und nagelfest war. Besonders gierig waren sie auf Armbanduhren, Fotoapparate und Akkordeons. Alles geraubte Gut wurde auf Pferdewagen geladen und in Richtung Eisenbahn weggeschafft.

Bald erschien auch ein russischer Kommandant in unserem Dorf und begann geschickt für sein Land zu werben. Durch die Flüsterpropaganda, die er in Umlauf setzte, wollte er den Eindruck erwecken, daß die Rußlanddeutschen wieder nach Hause fahren dürften. Es wurde bewußt das Wort das Wort Bauer, im Gegensatz zum Kolchosnik, gebraucht, denn die Flüsterpropaganda wollte damit den Menschen suggestiv beibringen, daß es wieder so etwas wie ein freies Bauerntum geben werde. Man habe ja auch die Kirchen wieder für den Gottesdienst geöffnet, hieß es. Rußland habe sich im Krieg gewandelt, die Kirchen seien wieder geöffnet, in der Armee dürften die Offiziere wieder ihre Achselstücke tragen, ja sogar, daß die Kolchosen wieder abgeschafft worden seien, also mit einem Wort – in der UdSSR sei es mindestens so gut, wenn nicht gar besser, als in Deutschland.

Am 30. Und 31. Juli gingen dann ein Sowjetoffizier und zwei Soldaten mit Maschinenpistolen, begleitet von deutschen Kommunisten mit roten Armbinden, von Haus zu Haus und trieben ihre Opfer zu den auf dem Dorfplatz stehenden Lkws der Roten Armee. Die Einsammlung aller Landsleute verlief planmäßig nach den von den Besatzern vorher erstellten Listen. Auf diese Art und Weise wurden Tag für Tag Ortschaften »geräumt«.

Das größte Sammellager für »Heimkehrer« befand sich in der Nähe der Stadt Halle in einer ehemaligen deutschen Kaserne. Es hatte bei voller Belegung eine Kapazität von 11 000 Personen. Nach Ankunft der »Heimkehrer« wurden von einer Militärkommission die Personalpapiere geprüft. Viele Landsleute vernichteten ihre deutschen Personalausweise, vor allen Dingen die mit Adler und Hakenkreuz ausgestatteten Geburtsurkunden ihrer in Deutschland geborenen Kinder (als ob sie mit dem Kinderkriegen ein Verbrechen begangen hätten). Die Ankommenden wurden in Baracken eingewiesen. Das Lager war mit Stacheldrahtverhauen umgeben, so daß der Eindruck erweckt wurde, die Menschen befänden sich in einem Gefängnis.

Die Lagerverwaltung bestand aus Sowjetoffizieren der inneren Streitkräfte (MWD) und einigen deutschen Zivilisten, die sich durchweg höflich und entgegenkommend zeigten. In der Regel gab es dreimal täglich warmes Essen aus einer Gulaschkanone der ehemaligen deutschen Wehrmacht: morgens Kascha aus Graupen oder Grütze, mittags die traditionelle russische Krautsuppe, gelegentlich auch deutsche Erbsensuppe, und abends wieder Kascha mit schwarzem Tee. Brot gab es zu allen Mahlzeiten zwei Schnitten pro Person.

Bald setzte die Umerziehung der Lagerinsassen ein. Für die Kinder wurden eigens dafür in der UdSSR ausgebildete Erzieher angestellt. Die Kinder wurden »spielend« prosowjetisch unterrichtet. Da gab es Politik in Gedichtsform, Liedern und Kinderspielen. Folgende Reime sind mir noch in Erinnerung:

Hammer, Sichel, Sowjetland,
Wenn ich zeige mit der Hand,
Fährst du mit ins Sowjetland.
Sie rüttelt sich, sie schüttelt sich,
Sie wirft die Beine hinter sich.
Wir klatschen in die Hand
Und fahrn ins Sowjetland.

Mit solchen und ähnlichen Mitteln lockten die Sowjets ihre ehemaligen Staatsbürger zurück ins Paradies der Werktätigen. Alle »Heimkehrer« wurden beim Eintreffen genauestens erfaßt und beobachtet. In jedem größeren Lager war eine Untersuchungskommission des MWD intensiv beschäftigt, die Leute zu prüfen. Diese Kommissionen, die aus ausgesuchten und speziell ausgebildeten MWD-Offizieren bestand, prüfte jeden »Heimkehrer« einzeln, wobei dieser genauestens über seine Tätigkeit während der deutschen Besatzungszeit Bericht erstatten mußte. Hier fanden bereits einige Festnahmen von Rußlanddeutschen statt.

Nach drei Wochen verbreitete sich wie ein Lauffeuer die Nachricht, daß alle Lagerinsassen nach Sibirien deportiert würden. Das verursachte viel Unruhe. Einige meldeten sich für einen Besuch zu »Verwandten« nach Halle ab und kehrten nicht zurück, andere stiegen nachts über den Zaun und gingen in den Westen. Die Lagerverwaltung verschärfte daraufhin die Kontrollen im Lager. Ausgänge wurden nicht mehr genehmigt. Dies alles ließ uns Schlimmes ahnen.

Mitte August 1945 wurden die ersten Züge, bestehend aus fünfzig bis sechzig Güterwaggons, auf das Lagergleis geschoben und die »Heimkehrer« mit ihren Habseligkeiten verladen. Täglich verließen ein bis zwei Züge, vollgestopft mit Menschen, das Lagertor in Richtung Osten, der aufgehenden Sonne entgegen. Was sie dort erwartete, wußte niemand.

Der Zug fuhr südöstlich von Leipzig über Dresden in Richtung Oder. Auf größeren Bahnhöfen gab es in der Regel keinen Halt, desto länger mußte der Eschelon, wie der Zug vom Kommandanten genannt wurde, auf den kleinen Bahnhöfen halten. Oftmals wurde er auf Abstellgleise geschoben und mehrere Tage stehen gelassen. Die Pausen wurden zwangsweise immer länger, bedingt durch die chaotischen Zustände in Polen, wo oftmals keine Kohle und kein Wasser zum Nachfüllen der Lok vorhanden war, wegen fehlender Lokführer oder auch wegen vorrangiger Befahrung des einzig übriggebliebenen Gleises, denn die Russen hatten schon streckenweise das zweite Gleis abmontiert und ins Sowjetland verbracht.

Jeder »Repatriant« mußte sich selbst um seine Verpflegung kümmern. Am schlimmsten hatten es die Großfamilien, die aus den ausgehungerten Städten Deutschland deportiert worden waren, denn sie hatten sich dort keine Nahrungsmittel für die bevorstehende Reise besorgen können. Der vom Zugführer wöchentlich verteilte Proviant reichte kaum zwei Tage. Der Pajok (Ration) für eine Person pro Tag bestand aus 250 Gramm Suchari, eine Art Zwieback aus russischem Schwarzbrot, einem halben getrockneten Salzfisch oder ebensoviel stinkendem Hering, etwas schwarzem Tee und manchmal ein wenig Zucker dazu. Diese Produkte mußte der Waggonälteste mit zwei Helfern vom Waggonkommandanten montags abholen und verteilen. Den ganzen Wochenproviant konnten die drei Männer mühelos in Futtersäcken, im Dialekt »Stumpen« genannt, leicht tragen.

Nach dreiwöchiger Fahrt blieb der Zug, wieder einmal vor Tagesgrauen, auf den Bahngleisen stehen. Die Insassen hatten kein Gefühl für Raum- und Zeitorientierung mehr. Sie hatten sich einfach ihrem Schicksal hingegeben, ohne zu fragen, wo sie sich befanden oder warum der Zug wieder einmal stehen blieb. In den Wochen ihrer Irrfahrt durch Polen hatten sie es gründlich gelernt, nicht zu fragen, denn Auskunft über das Ziel ihrer Fahrt bekamen sie niemals zu hören.

Mit Tagesbeginn, gegen acht Uhr, hörte man laut fluchende Stimmen der Militärbegleiter des Zuges. Die Sprüche der beiden Wachsoldaten und des Offiziers waren zwar bekannt, aber jetzt klang in ihnen etwas Freches, Drohendes, das nichts Gutes ahnen ließ. Die Sieger fühlten sich vermutlich durch die Berührung mit dem Boden und der Luft Rußlands ihrer Obrigkeit verpflichtet, einen neuen, strengeren Ton einzuschlagen. »Türe aufmachen ... Alles ausladen«, schrien sie mehrmals, am Zug auf und ab marschierend. Wir schrien zurück und weigerten uns, dem Befehl zu gehorchen, denn draußen regnete es in Strömen, und man sah keine Transportmittel, die die Habseligkeiten und die Kinder wegbringen konnten.

Nach mehrmaligen vergeblichen Aufforderungen, die Waggons zu räumen, gab der Begleitoffizier den Befehl, Warnschüsse abzufeuern. Die Waggoninsassen spürten, daß es ernst, sehr ernst wurde, und begannen ohne Zögern, ihr verbliebenes Hab und Gut aus dem Wagen in den Matsch zu werfen. Nach zwei Stunden war alles ausgeladen, und der Lokführer gab nach dreimaligem Pfeifen wieder Volldampf. Die Lok der Deutschen Reichsbahn schleppte eilig die 52 leeren Waggons, die den Menschen während der letzten fünf Wochen ein Dach über dem Kopf geboten hatten, davon in Richtung Westen, vermutlich, um die nächsten zweitausend Menschen »freiwillig« zurück ins sowjetische Vaterland zu holen.

Nach dem abgefahrenen Leerzug öffnete sich dem Blick ein Lager am Berg, auf der südlichen Seite einer sowjetischen Breitspurbahn. Soweit das Auge reichte, konnte man Tausende mit Blech, Brettern und Lumpenfetzen bedeckte Erdlöcher sehen. Das strömende Regenwasser wurde von den darin hausenden Menschen durch Dämme um die Erdhütten herumgeleitet. Der lehmige Boden war trotzdem so glitschig, daß die Bewohner dieser Löcher sich zwischen den Hütten nur mit Hilfe von Stöcken und Zaunpfählen bewegen konnten. Wir Neuankömmlinge suchten, jeder auf eigene Faust, ein von unseren Vorgängern zurückgelassenes Loch zu finden. Hier wurde das ungeschriebene Gesetz der Taiga brutal sichtbar. Jeder versuchte, für sich etwas zu finden, ohne Rücksicht auf die Schwachen und Kranken.

Unser »Wagenältester« entdeckte als erster ein mit Regenwasser gefülltes Loch. Die Familie begann mit Schüsseln und Eimern das Wasser herauszuschöpfen, und bald war die »Hütte« mit ein paar im Lager aufgesammelten Brettern und mitgebrachten Decken und Regenmänteln gedeckt. Im vier Quadratmeter großen Loch fanden Platz: seine eigene Familie mit fünf Personen und der typhuskranke Junge seiner Schwester.

Die Schwester selbst mit ihren Zwillingen zog in Richtung der in der Lagermitte stehenden zwei Holzbaracken, die den heimkehrenden Russen und Ukrainern zur Verfügung standen. Draußen war es schon stockfinster, als sie hineinging und mit einem hilfesuchenden Blick die Menschen auf den dreistöckigen Pritschen anblickte. Sie entdeckte eine Frau aus Kandel bei Odessa und bat sie um Hilfe. Diese gab ihr sofort einen Wink, nicht Deutsch zu sprechen, sonst würden beide hinausgeworfen, und zeigte auf den freien Platz auf dem oberen Stockwerk einer leerstehenden Pritsche.

Mitten in der Nacht, zwischen elf und zwölf Uhr, hörten die Bewohner der Baracke ein fürchterliches Geschrei: »Gdje russkije Nemzy? – Wo sind hier die Russendeutschen? Gdje sdesj Faschisty? – Wo sind hier die Faschisten?« Alle, sowohl Russen als auch Nichtrussen, versteckten sich vor Angst unter ihren Decken und warteten das weitere Geschehen ab. Vier betrunkene Marodeure rissen die Decken von den liegenden Menschen und suchten nach versteckten Deutschen. Sie fanden schließlich ein Opfer und zerrten es aus der Baracke hinaus in die dunkle Nacht. Es war eine junge Frau, an der sich die Banditen draußen vergingen. Ihre flehenden Schreie waren noch bis spät nach Mitternacht zu hören. Niemand wollte und konnte dem Opfer helfen.

Die Räuberkommandos zogen in der Regel zu fünf bis sechs Mann in Ledermänteln und Schaftstiefeln, bewaffnet mit Stechmessern und Pistolen, durch das Lager und gingen gezielt auf ihre Opfer los. Im Alkoholrausch fluchend und drohend, stürzten sie sich auf ihre Beute und schleppten sie ins Freie. Sie schrien dabei: »Wo sind die Russendeutschen? Wir bringen sie um. Wo sind die Sachen der Vaterlandsverräter? Her damit!« Am schlimmsten waren die hübschen jungen Frauen und Mädchen dran. Die jungen Mütter drückten ihre Babys an die Brüste, in der Hoffnung, sich selbst und ihre Kinder zu retten. Einige junge Männer versuchten, mit Spaten, Zaunlatten und Beilen eine Art Selbstwehr zu organisieren, hatten jedoch wenig Erfolg, denn die Banditen waren mit Pistolen bewaffnet. Rettung brachte erst der anbrechende Tag, denn mit Sonnenaufgang zogen die Täter mit vollgestopften Säcken davon. Man konnte sich bei niemandem beschweren, denn die Lagerleitung nahm keine Anzeigen an, mit der Begründung, man müsse für eine ordentliche Anzeige die Täter mit Namen benennen.

Nach einer Woche Aufenthalt im Lager Kowel hatten die »Repatrianten« nur einen Wunsch, so schnell wie möglich aus diesem Todeskessel zu entkommen, egal wohin, nach Hause ans Schwarze Meer oder nach Sibirien; dabei waren die »ausprobierten« Methoden nur ein Vorspiel der Leiden in der sibirischen Deportation.

Nach acht Tagen wurden wir mit dem obligatorischen Befehl »Dawaj, Dawaj, po wagonam« wieder aus den Erdlöchern geholt und weiterverfrachtet.

Über Smolensk ging es zunächst nach Wjasma. Hier an diesem Eisenbahnknotenpunkt, der die letzte Möglichkeit bot, in die Südukraine umzuschwenken, wurde die Hoffnung der Deportierten, doch noch »nach Hause« zu gelangen, endgültig zerstört. Die »Heimkehrer« rückten in den immer kälter werdenden Waggons noch enger zusammen und bereiteten sich seelisch und physisch auf einen sehr langen Winter vor. In die breitspurigen »Wagony« wie Vieh eingepfercht, hatten die 102 Menschen im Wagen Nr. 12 nur halb soviel Platz wie in den Güterwagen der Deutschen Reichsbahn, nämlich einen Streifen von 22 Zentimeter, oder umgerechnet hatte eine Person eine Fläche von 0,7 Quadratmetern; zum Stehen zuviel und zum Sitzen zuwenig, geschweige denn zum Liegen. Für das Restgepäck, das in der Hölle von Kowel bis auf weniger als die Hälfte zusammengeschmolzen war, konnte der Raum nur senkrecht in Anspruch genommen werden. Für menschliche Bedürfnisse blieben nur einige Quadratdezimeter auf der Bodenfläche an der Waggontür übrig.

Waschmöglichkeiten gab es nicht. An manchen Bahnhöfen konnten wir, wenn es der Zugkommandant erlaubte, uns an der Wassertankstation der Loks das Gesicht waschen. Dieses »technische« Wasser, manchmal eine zweifelhafte dunkle Brühe, wurde auch zum Trinken und Kochen in die Waggons mitgenommen. Überdies vermehrten sich die in Kowel mitgenommenen Läuse zu Millionen und breiteten sich sowohl am Körper als auch in den Kopfhaaren aus, so daß die Opfer beim Anhalten des Zuges ihre Unterwäsche über offenem Feuer »braten«, sprich desinfizieren mußten.

Die Namen der Bahnhöfe hatten längst vom Polnischen ins Russische gewechselt, ungewiß war nur die Zugrichtung. Wir standen stundenlang am geöffneten Türspalt, buchstabierten laut die vorbeihuschenden Namensschilder der Stationen, kritzelten auf Zeitungspapier die Eisenbahnlinien ein und diskutierten über die noch mögliche Änderung der Zugrichtung gen Südosten. Indes kroch die Zugraupe unaufhaltsam dem Osten entgegen. Das Herbstwetter wurde kälter, die eisigen Regenfälle peitschten an die Außenwände der Waggons und ließen uns noch näher zusammenrücken. Angst und Bange, das Weinen der Frauen und das Stöhnen der Männer begleiteten ständig die überstrapazierten Menschen in den ungeheizten rollenden Viehwagen.

Gegen Mitte Oktober starben jede Nacht zwei bis drei »Repatrianten« im rollenden Zug. Die Angehörigen hatten keine Möglichkeit, die Verstorbenen zu bestatten. Die Toten mußten auf Anweisung des Zugkommandanten nach Aufnahme ihrer Daten an irgendeinem namenlosen Bahnhof eingewickelt in Decken liegengelassen werden. Von wem und wo sie beerdigt wurden, haben die Angehörigen nie erfahren. Und so liegen sie bis heute in der russischen Erde an den Eisenbahnstationen mit kyrillischen Namen auf der Strecke zwischen Kowel und dem Ural, bis an das Ende des zu Sowjetrußland gehörenden Osteuropa, ohne Kreuze und ohne Namensschilder auf ihren Gräbern.

Am 20. Oktober 1945 verließ der Zug Kasanj, die Landeshauptstadt Tatariens, schwenkte in nördliche Richtung ein und steuerte ein neues Ziel am Westural an. Waren es die zahlreichen Toten der letzten Woche, war es der so früh in diesem Jahr einsetzende Winter, oder hatte ein örtlicher Apparatschik nach frischen Arbeitskräften für das Industrie- und Rüstungsrevier des Westural gerufen? Niemand weiß, wer auf den Gedanken kam, die halbverhungerten, halberfrorenen Menschen im bereits erreichten Uralgebiet abzuladen und in Gewahrsam zu nehmen.

Am 25. Oktober wurden drei Waggons mit ca. fünfhundert Personen vom Zug abgehängt und, wie man hörte, in die Holzsägewerke der Stadt Sarapul abgeschoben. Verwandte und Bekannte aus dem ehemaligen Baden in Odessa wurden hier für viele Jahre voneinander getrennt. Die restlichen fünf Waggons mit über 360 Menschen wurden 75 Kilometer weiter, am Ende der Eisenbahnstrecke, am Morgen des 28. Oktober 1945 bei Schneetreiben entladen.

Wir waren an unserem bislang unbekannten Ziel angekommen – in Kilmes, zu der Zeit noch »4. Strojploschtschadka«, auf deutsch »4. Baustelle«, genannt, nach über zwei Monaten Reise am Ort unseres nunmehr beginnenden neuen Lebens.

Der Akt der Übergabe des angekommenen Menschengutes dauerte weniger als eine Stunde. Es wurden lediglich die Namenslisten der Deutschen einschließlich der mitgebrachten Leichen überprüft und die Entgegennahme der Deportierten durch Unterschriften des Zugkommandanten und des Genossen Sabreckow mit rundem sowjetischem Wappenstempel besiegelt. Dann zerrten die frierenden Menschen ihre geringe Habe aus den Viehwaggons und lagerten sie im Schlamm neben dem Eisenbahngleis.

Bald danach erschienen zwölf Pferdegespanne mit kleinen Mongolenpferden und, »o Wunder«, deutschsprechenden Fuhrmännern: Deutsche wie wir, überwiegend aus dem Wolgagebiet stammend und bereits 1943 in diese Wildnis geschickt, zur berühmt, berüchtigten »Trudarmija«, die hier den Grundstein der »4. Baustelle« mitten im Urwald gelegt hatten.

Die erste Begegnung mit Schicksalsgenossen wirkte auf viele wie ein Wunder. Man sagte sich: »Wenn diese Wolgadeutschen hier die grausamsten Kriegsjahre überlebt haben, werden wir es mit Gottes Hilfe auch schaffen.« Man lud seine Besitztümer auf die Pferdegespanne und freute sich, von einem Wolgadeutschen von den verlausten rollenden Gefängnissen weggebracht zu werden.

Es schneite in dicken Schneeflocken den ganzen Oktobertag auf die zugefrorene Erdkruste Udmurtiens. Die Räder versanken bis an die Naben im schwarzen, matschigen Schlamm. Die abgemagerten kleinen »Mongolki« hatten nicht die Kraft, die Wagen von der Stelle zu bewegen. Wir mußten absteigen und im tiefen Morast den Pferden helfen. Zwölf Fuhren mußten an diesem Tag insgesamt viermal fahren, bis am späten Abend alle 364 Menschen zum Barackenlager transportiert waren.

All dies lief unter den strengen Augen des sichtlich zufriedenen Genossen Sabreckow ab, der am Abend des 28. Oktober 1945 seiner NKWD-Zentrale in Ishewsk über die erfolgreich durchgeführte Ausladeaktion des auf der »4. Baustelle« angekommenen Menschenmaterials seinen Rapport erstatten konnte.

Auf einem Areal von 300 mal 300 Metern standen zehn Doppelbaracken. Alle zehn Baracken waren zum Verwechseln ähnlich, so daß die neuen Bewohner in der Nacht oftmals die Eingänge verwechselten. In jeder Barackenhälfte wurden bis zu sechs Familien auf dreistöckigen Holzpritschen untergebracht. An der Innenzwischenwand stand ein großer russischer Ofen mit vorne angebautem Kochherd, der rund um die Uhr geheizt werden mußte. In den Baracken gab es weder Wasserversorgung noch Sanitäranlagen, deswegen mußten die Kinder und alten Menschen in der Nacht für das Notdürftige die Nachttöpfe, sofern man welche hatte, benutzen, sonst gingen alle zum Gemeinschaftseimer an der Ausgangstür, der seinen Gestank über die gesamte Baracke in der Nacht verbreitete.

Es gab keine Art von Licht, denn es fehlten nicht nur Petroleumlampen, sondern auch Petroleum, von elektrischem Strom ganz zu schweigen. Während der zunehmend länger werdenden Nächte mußten die Kinder für Beleuchtung durch Schindelholz aus Fichtenbaumstümmeln sorgen. Nach zwei Stunden solcher Holzbrenner war der Sauerstoff restlos verbraucht, und die Räume standen voller Rauchschwaden, unter denen die älteren Menschen mit Atembeschwerden schwer zu leiden hatten.

Auch das Holz zum Heizen der Baracke mußten die Kinder und alten Menschen, von der Obrigkeit »Ishdiwenzy«, d. h. Nichtstuer genannt, aus dem naheliegenden Wald heranschaffen und ofengerecht zersägen und zerspalten. Die Mitesser hatten die ungeschriebene Aufgabe, für Wärme in den Baracken zu sorgen, bis zur Rückkehr der schuftenden Brotverdiener, die nach zwölf Stunden Härtestarbeit im Walde das dringende Bedürfnis hatten, sich am Ofen aufzuwärmen und ihr durchnäßtes Fußwerk, bestehend aus Lumpenwickeln und Holzrindeschuhen, zu trocknen.

Die erste Morgenaufgabe der Männer war, die eingeeiste Tür mit dem Beil aufzuhacken und die hartgefrorene Eisschicht aus den Fugen des Türrahmens zu entfernen. Erst danach konnten der Schnee vor dem Barackeneingang weggeschaufelt und der Zugang zur Baracke von den über Nacht niedergefallenen Schneemassen befreit werden. Die »Arbeiter« wuschen in der Regel ihre Gesichter nach dem Aufstehen mit Wasser in den aus Deutschland mitgebrachten Alu- und Blechschüsseln. Manche gingen hinaus in den Hof und rieben sich die Gesichter mit Schnee ab. Die komplizierte Kunst danach war das Anlegen der »Fußwickel« und das Festbinden der »Batschker«, der aus Lindenbaumrinde geflochtenen Schuhe. Die »Fufaikas«, die gesteppten Wattejacken und die dicken Wattehosen, waren morgens beim Anziehen meist noch feucht, man tröstete sich und sagte: »Die werden am Leibe wieder trocken.«

Eine Brotration von 600 Gramm bekamen nur die Schwerstarbeiter, die ihre tägliche Norm erfüllten; für einen Arbeiter, der das Soll nicht erzielte, gab es nur 400 Gramm des lebensspendenden Mischbrotes. Die Meister und Brigadiere (Vorarbeiter) konnten nach eigenem Ermessen für überdurchschnittlich gute Leistungen zusätzliche Brotrationen zuteilen. Meist steckten sie die dafür notwendigen Gutscheine aber in die eigene Tasche und tauschten sie gegen Wodka und andere defizitäre Waren. Die Matadore des mittleren Führungspersonals gaben einen Teil ihrer Beute an die Obrigkeit ab und verschafften sich somit wieder mehr Brotgutscheine für den nächsten Monat. Das ganze Zuteilungssystem war von unten bis oben korrupt.

Für Kinder und ältere Menschen gab es am Anfang 250 Gramm Brot pro Person. Ende 1946 wurde ihnen die Brotzuteilung gänzlich gestrichen. Besonders in den kinderreichen Familien herrschte bittere Hungersnot. Die Beine der älteren Menschen begannen sich mit Wasser zu füllen. Das Wort »geschwollen« machte die Runde und bedeutete soviel wie »ständig hungern«, im ärztlichen Jargon: Distrophie.

Bald kam jemand auf die Idee, junge Tannenzweige aufzukochen und mehrmals am Tage als Tee zu trinken. Der Aufguß schmeckte penetrant bitter, stillte aber für kurze Dauer den Durst und verdrängte den Hunger. Not macht erfinderisch, und so begannen wir, auf dem naheliegenden Kartoffelfeld der Nachbarkolchose mit Spaten und Brecheisen unter der meterhohen Schneeschicht nach nichtgeernteten Kartoffelresten zu graben. An manchen arbeitsfreien Sonntagen konnten zwei Männer bis zu zwei Eimer gefrorene Kartoffeln »stupfeln« und ihren hungernden Kindern bringen. Zu dieser Zeit wurden in allen Baracken auf den Gußplatten der Kochherde die »Krumbeerakiechla« gebacken. Trotzdem starben viele Barackeninsassen am Ende des ersten Winters den Hungertod.

Im Herbst 1946 wurde eine 360 PS starke Dampfmaschine »Buckau-Wolf« aus Magdeburg ins Lager gebracht und im Kraftwerk aufgestellt. Der dazugekoppelte Generator aus dem russischen Werk »Elektrosila« aus Leningrad lieferte aber nur 250 Kilowatt, so daß die volle Leistung der Kondensations-Dampfmaschine nicht ausgeschöpft werden konnte. Immerhin kam ab dieser Zeit der erste elektrische Strom in die Wohnungen und zu den Antrieben der Holzverarbeitungsmaschinen.

In diesem Jahr trafen überhaupt viele Maschinen und Ausrüstungsgegenstände aus Deutschland ein. Außer der Dampfmaschine aus Magdeburg kamen Seilwinden mit Dampfantrieb aus Schlesien, Elektromotoren und Schaltgeräte der Firmen Bosch, Siemens und AEG, Dampflokomotiven für Schmalspur aus Deutschland, ja sogar rostige Eisenbahnschienen der Firma Krupp, Baujahr 1892, trafen auf der Baustelle in Kilmes ein und wurden teilweise eingesetzt, teilweise als unbrauchbar wegen fehlender technischer Unterlagen verschrottet.

Für die durch Zuzug einheimischer Russen, Udmurten und Tataren beträchtlich erweiterte Siedlung wurden im Sommer ein Klubhaus im Blockhausstil und eine zentrale »Radiostanzija« errichtet. In den Wohnungen wurde auf Anordnung des Parteisekretärs der sogenannte Radioteller aus schwarzer Dachpappe installiert, damit die Werktätigen immer Moskau hören und die Anweisungen des großen Führers Stalin empfangen konnten. Die Wunder der Technik waren nicht gerade billig; ganze 29 neue Rubel wurden vom nächsten Monatsgehalt eines Arbeiters, das nur ca. 600 Rubel betrug, abgezogen. Außerdem mußte ab sofort laut Verordnung der Parteizentrale jede Familie die Zeitung »Udmutskaja Prawda« abonnieren, obwohl kaum jemand von uns Russisch lesen konnte. Dies interessierte die Partei nicht, sie handelte nach der Devise Lenins: »Wer's nicht kann, muß es lernen; wer sich weigert, wird gezwungen!«

Ende November 1948 wurden alle Deutschen in der Arbeitskantine, genannt Stolowaja, zusammengetrieben. Es präsidierte die berühmt-berüchtigte Trojka. Unter den drei Herren saß ein hochdekorierter Offizier im Range eines Majors des NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) namens Leschtschukow; der Parteisekretär und der Direktor des Holzgewinnungsbetriebes Moskwin waren ebenfalls anwesend.

Die Versammlung an diesem Sonntagnachmittag dauerte eine Stunde. Ohne große Vorrede zog der Offizier aus einem verschlossenen Umschlag ein Papier und verkündete mit strenger, geübter Militärstimme, daß die Partei- und Staatsführung beschlossen habe, die Deutschen dort, wo sie sich zur Zeit befinden, »auf ewige Zeiten anzusiedeln«, und daß für die Flucht eine Gefängnisstrafe nicht unter zwanzig Jahren vorgesehen sei. Ab sofort würden die Deutschen »Spezposelency« (Sondersiedler) genannt; sie dürften sich nur noch im Umkreis von zwei Kilometern zwischen der Arbeitsstelle und der Baracke »frei« bewegen. Wer außerhalb dieses Gebietes erwischt werde, müsse ebenfalls mit 20 Jahren Gefängnisstrafe rechnen. Für die Ausführung dieses von Stalin und Kalinin unterschriebenen Ukas sei der sogenannte »Spezkommandant« am Wohnort zuständig. Alle Fragen der Arbeitsdisziplin sowie persönliche Probleme würden ausnahmslos von diesem Offizier geregelt.

Das hieß: Wenn sich ein Meister oder Brigadier über einen Deutschen beschwerte, hatte der »Spezkommandant« die Pflicht, die betreffende Person zu einer Gehirnwäsche in sein Büro zu bestellen; den Formen der Hexenjagd waren keine Grenzen gesetzt.

Die Anwesenden im Alter über sechzehn Jahre mußten den Ukas über Ansiedlung »auf ewige Zeiten« unterschreiben und sich verpflichten, mindestens einmal im Monat vor dem Kommandanten zu erscheinen. Major Leschtschukow, ein typischer Vertreter des Regimes, zeichnete sich durch besonders strenge Haltung den Deutschen gegenüber aus. Er ließ sie regelmäßig alle zwei Wochen in seinem Büro erscheinen und stellte jedesmal bohrende Fragen zur Vergangenheit, insbesondere zur Tätigkeit während der deutschen Besatzungszeit und über die Verhältnisse in Deutschland von 1944 bis 1945. Er interessierte sich für alle Bekannten und Verwandten, gleichgültig, ob sie in der Sowjetunion, in Westdeutschland oder gar in den USA lebten, und schrieb die gewonnenen Informationen sorgfältig in seine Unterlagen ein, die er in seinen Panzerschrank aufbewahrte. Auf diesen Safe war er besonders stolz. Üblicherweise öffnete er ihn während eines Verhörs mehrmals, um somit die Position des Kommandanten zu demonstrieren."
 
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