Geschichte der Russlanddeutschen
8 Kulturarchiv
8.2.5 Schicksalswege — Erinnerungen
8.2.5.3.3 Otto Dreit
Wir wohnten in der Moskauer Straße, in einer der belebtesten Straßen von Saratow. Das Geschäft lag auf dem Hof. Vater hatte dort als Junge angefangen zu lernen. Nach der Revolution von 1917 ging der Besitzer, der auch viele andere Geschäfte in anderen Städten Russlands hatte, ins Ausland. Mein Vater kaufte es zusammen mit einigen Angestellten relativ billig vom Staat. Sie handelten vor allem mit Sanitäranlagen und mit Waren für den Hygienebedarf. Kunden waren Russen und Deutsche der Stadt. Das Geschäft ging gut. Es wurde gut verdient. Wir hatten ein eigenes Haus, eine große Wohnung, schöne Möbel und insgesamt ein gutes Auskommen. Aber zu den reichen Leuten der Stadt zählten wir nicht.
Ich wurde 1921 geboren. Meine Eltern hatten neun Kinder. Vier verstarben schon im frühen Kindesalter. Ich wuchs mit drei älteren Brüdern und einer jüngeren Schwester auf. In den ersten Jahren nach dem Weltkrieg herrschte noch zwischen Russen und Deutschen, die in Saratow und im ganzen Wolgagebiet wohnten, ein gespanntes Verhältnis.
Obwohl in der Stadt viele Deutsche lebten, war auf den Straßen kein Deutsch zu hören. Es wurde in der Öffentlichkeit nur Russisch gesprochen. Mein Vater hatte zwar viele Russen als Kunden. Doch im privaten Bereich bestanden nur Beziehungen und Freundschaften zu Deutschen.
Die Wunden des Krieges, Deutschland als Feindesland und der russische Nationalismus - all das wirkte noch ziemlich lange nach. Zwar bemühte sich die Sowjetmacht, solche Reserviertheit und Spannungen zurückzudrängen, doch das brauchte Zeit. Wir Kinder hatten damit weniger Probleme. Die meisten meiner Spielkameraden und Freunde waren Russen. Als Kind lernte ich beide Sprachen, Deutsch und Russisch.
Von 1928 bis 1935 besuchte ich eine der beiden deutschen Schulen in Saratow. Es wurde in Deutsch unterrichtet und Russisch nur als zweite Sprache gelehrt. Zu meinen Mitschülern gehörten auch viele russische Kinder. Zurückschauend kann ich sagen, die Schule war gut. Wir hatten erfahrene und engagierte Lehrer und eine Schulausstattung, über die man nicht klagen konnte. Probleme gab es in den letzten beiden Jahren meiner Schulzeit. Ab 1933 blieben oft von heute auf morgen Lehrer weg. Sie seien verhaftet worden, hieß es hinter vorgehaltener Hand. Genaueres erfuhren wir nicht. 1935 wurde meine Schule geschlossen. Die letzten Monate bis zum Abschluss der 8. Klasse ging ich in die russische Schule unseres Stadtteils.
Doch diese schulischen Probleme waren klein angesichts dessen, was meinem Vater inzwischen widerfahren war. Ich hatte bereits gesagt, dass es uns nach der Revolution von 1917 wirtschaftlich gut ging. Auch kulturell geschah in der Stadt viel, besonders im Schulwesen, im Theater und im Musikleben. Es fanden regelmäßig Kinoveranstaltungen statt. Nicht nur für uns Kinder war das natürlich die Attraktion. Menschen, die früher von vielen Bereichen der Kultur so gut wie ausgeschlossen waren, fanden nun vermehrten Zugang zu ihr. Es hatte sich eine allgemeine Aufbruchstimmung herausgebildet. 1929 änderte sich das. Besonders hart traf es auch meinen Vater und uns, seiner Familie. Die einsetzende Kollektivierung erstreckte sich nicht nur auf die Landwirtschaft, sondern auch auf das Handwerk und den Handel. Innerhalb kurzer Zeit wurden die Steuern für private Geschäfte um ein Vielfaches erhöht. Vater und die anderen Anteilseigner konnten die Steuerlast nicht verkraften. Zunächst wollten sie sich dadurch retten, dass sie das alte Geschäft verkauften und sich ein kleineres erwarben. Doch auch das half nicht. Als sie nicht mehr zahlungsfähig waren, wurde ihre ganze Habe, die Verkaufsräume, das Haus und die Wohnungseinrichtung gepfändet. Ein Anteilseigner floh, er verschwand nach Kasachstan.
Ich erinnere mich noch sehr deutlich, wie 1930 der Gerichtsvollzieher mit einer Gruppe von Milizionären in die Wohnung kam und fast alles mitnahm. Mutter setzte sich auf das breite Familienbett. Mit Händen und Füßen wehrte sie sich gegen den Wegtransport. Das Bett und eine Truhe gehörten zu den wenigen Dingen, die wir behalten durften.
Vater wurden Rechte als sowjetischer Staatsbürger aberkannt. So durfte er an Wahlen nicht mehr teilnehmen und nicht gewählt werden. Viel schlimmer war jedoch, dass er nur noch zu einer so genannten "schwarzen Tätigkeit" zugelassen wurde, zur körperlich schweren Arbeit. Im Unglück war ihm das Schicksal ein bisschen gnädig. Ein Bekannter ermöglichte es ihm, bei der Straßenbahngesellschaft unterzukommen. Er konnte bei der Reparatur elektrischer Oberleitungen arbeiten. Eine für ihn vollkommen fremde und ungewohnte Tätigkeit. Aber was sollte er machen? Er musste seine Familie ernähren. Dann ereignete sich der Unfall: Mein Vater kam an eine nicht abgeschaltete Leitung. Er erlitt Verbrennungen an den Armen, der Schulter und an den Augen. Längere Zeit musste er im Krankenhaus bleiben. Danach konnte Vater nicht mehr die Arbeit bei der Straßenbahngesellschaft fortsetzen. Während dieser Zeit musste auch ich als Elfjähriger mithelfen, um wenigsten ein bisschen Geld für die Familie herbeizuschaffen. Auf den Straßen verkaufte ich Zigaretten und Trinkwasser.
In seiner verzweifelten Lage wandte sich Vater - ich glaube es war im Frühjahr 1933 - mit einer Petition an Michail Kalinin, einen der Führungsleute in der kommunistischen Partei. Dieser war aus Moskau zu einem Parteikongress in unser Gebiet gekommen. Zwei Wochen später bekamen wir Post. Ich sehe noch deutlich die Postbotin vor mir. Sie gab mir am Eingang unserer Wohnung ein offizielles Schreiben. Sie sagte, dass darin bestimmt etwas Gutes für uns stehen würde. Die Spannung war groß, als Vater am Küchentisch den Brief aufbrach und ihn uns vorlas. Vater erhielt seine vollen Rechte wieder und hatte damit wieder Zugang zu allen Tätigkeiten. Er fand dann bald eine Stelle als Buchhalter in einer Firma, die die Schulen in Saratow und im Umland mit Schulmöbel und Unterrichtsgeräten belieferte. In den letzten Jahren bis zur Deportation der Wolgadeutschen nach Kasachstan und Sibirien war er sogar der Direktor dieser Firma.
Zu meinen Kindheitserinnerungen gehören auch die schrecklichen Bilder von der großen Hungersnot 1932/33. In jenem Winter sah ich in den Straßen, auf dem Bahnhof viele hungernde Menschen. Frauen mit Säuglingen, Invaliden, Alte, aber auch Kinder und junge Leute zogen bettelnd durch die Stadt. Nirgendwo gab es mehr Hunde und Katzen, selbst das sonst lustige Tschilpen der Spatzen war nicht mehr zu hören. Sie waren längst in den Kochtöpfen der Hungernden gelandet. Eine gespenstische Welt! Kraftlose Menschen wühlten im Müll und in Abfallhaufen, in der Hoffnung, doch noch etwas Essbares zu finden. Ob es Kartoffelschalen, verfaultes Obst oder schimmliges Brot war - alles wurde mit Heißhunger verschlungen. Wer zählte schon die Sterbenden, für die das der letzte Bissen war? Ich sah morgens die Marktarbeiter, wie sie die Wagen mit den Toten beluden und sie aus der Stadt karrten. Niemals werde ich den Anblick vergessen, denn es gab nicht einmal mehr richtige Tücher, um die Toten zu bedecken.
In unserem Hinterhaus wohnte der Hausmeister, ein Deutscher. Mit seiner Frau, einer Russin, hatte er vier Kinder. Wir Jungs nannten ihn immer nur Onkel Paul. Ausgangs des Hungerwinters, wohl so im März, kam er früh in unsere Wohnung. Ich hätte ihn fast nicht erkannt. Fahlbleich, abgemagert zum Skelett mit tief liegenden Augen stand er in unserer Küche und bat meine Mutter mit leiser, zitternder Stimme um ein Stück Brot. Mutter fragte ihn gleich nach der Frau und den Kindern. Weinend erzählte er, dass Gott sie zu sich genommen habe. Seit drei Tagen hätte er nichts mehr gegessen, er könnte es nicht mehr aushalten. Obwohl ich noch ein Kind war, bemerkte ich sehr deutlich, wie er sich des Bettelns wegen schämte.
Unsere Essenration war auch äußerst knapp. Mutter teilte jedem ein kleines Stück Brot am Morgen zu, für den älteren Bruder, der arbeiten ging, hatte sie die Ration im Schrank verschlossen. Wortlos ging sie nun, als sie das Elend des Hausmeisters sah, und schnitt für ihn die Hälfte des für den Bruder bestimmten Brotes ab. Onkel Paul dankte mit Tränen in den Augen. Den angebotenen Tee lehnte er ab. Er wankte, sich mit der Hand an der Wand haltend, auf den Hof.
Wenig später ging ich zur Schule und sah ihn am Tor auf der Bank sitzend. Einen Bissen Brot hatte er noch im Mund, das restliche hielt er fest in der Hand. Vor Entkräftung war er eingeschlafen. Als ich am Mittag aus der Schule nach Hause zurückkam, saß er noch immer so da, mit dem Brotkrumen im Mund.
Nur das Stückchen Brot war ihm inzwischen von einem anderen Hungrigen aus der Hand genommen worden. Ich stand eine Weile vor ihm, ohne zu begreifen, was passiert war. Schließlich sah ich Insekten über sein Gesicht laufen, erst da erkannte ich: Der Hungertod hatte auch Onkel Paul ereilt.
Doch auch unsere Familie blieb nicht verschont. Mein Bruder erkrankte an Fleckfieber. Vater und Mutter legten ihn, warm in Decken gewickelt, auf einen Handwagen und brachten den stark Fiebernden ins Krankenhaus. Noch hatten wir Hoffnung, er war ein großer und starker junger Mann. Aber wir hofften vergebens. Lange Zeit suchten ihn meine Eltern. Auf dem Fußboden in der Ecke des Leichenhauses fanden sie endlich meinen Bruder unter den vielen Toten. Es war für uns und viele andere damals eine schreckliche Zeit, das Hungerjahr 1933/34.
1935 nach der 8. Klasse habe ich drei Jahre das Medizinische Technikum in Saratow besucht und bin Zahnarzt geworden. Damals war dazu noch kein Hochschulstudium nötig. Wie alle Absolventen musste auch ich eine Zeit lang außerhalb der Stadt in einer ländlichen Gegend arbeiten, wo Zahnärzte gebraucht wurden. Ich praktizierte in Balzer, einem Landstädtchen im linksseitigen Wolgagebiet.
1940 wurde ich zum Wehrdienst in die Armee eingezogen. Zuerst war ich enttäuscht, weil man mich nicht dem medizinischen Dienst zuteilte. Doch ich kam mit dem Soldatenleben gut zurecht, ja mehr noch, der Dienst machte mir sogar Spaß. Ich absolvierte eine Unteroffiziersschule und blieb als Zugführer bis Kriegsbeginn an der Schule. Das Regiment war im Baikal-Gebiet stationiert.
Nach Ausbruch des Krieges wurden wir an die Grenze zu China verlegt. Dort in der Mandschurei standen japanische Verbände. Von den etwa 1 300 Soldaten im Regiment waren vielleicht 150 Russlanddeutsche. Bis zum Kriegsausbruch spielte die Nationalität, ob Russe, Kasache oder Deutscher überhaupt keine Rolle. Mit einem Schlag kamen Spannungen auf. Wir, die Soldaten deutscher Nationalität, wurden mit fragendem Blick angesehen. Ich weiß noch, wie ein KGB-Offizier zu mir kam und mich fragte, wie ich die patriotische Haltung meiner deutschen Kameraden einschätzen würde. Ich konnte nichts Nachteiliges sagen. Die Verlegung des Regiments ins Grenzgebiet erstreckte sich über mehrere Tage. Lange Märsche waren zu bewältigen. Vielen Kameraden musste geholfen werden, ans Ziel zu kommen. Beim Appell am neuen Etappenort wurden dann zehn Soldaten ausgezeichnet, die sich bei der Hilfe von anderen besonders hervorgetan hatten. Unten den Zehn waren sieben deutscher Nationalität. Ich sah darin ein deutliches Zeichen für unsere Zuverlässigkeit auch bei der Verteidigung unserer Heimat gegen die Angreifer.
Mitte September 1941 kam der Befehl, dass sich alle Regimentsangehörigen deutscher Nationalität, Offiziere, Unteroffiziere und einfache Soldaten, im Stab einzufinden hätten. Wir wurden in den alten Standort des Regimentsstabes nach Tschita abkommandiert. Nach einigen Tagen des Zwischenaufenthaltes dort ging die Fahrt weiter ins Omsker Gebiet. Viele von uns glaubten, dass es nun weiter in Richtung Westen gehen würde. Vielleicht würde die Rote Armee uns Deutschsprechende für Spezialaufgaben im Krieg gegen die Deutsche Wehrmacht einsetzen. Unser Zug machte in Kemerowo Halt. Es hieß, wir sollten als Bau-Bataillon beim Aufbau einer chemischen Fabrik eingesetzt werden. Wir bezogen ein Lager, in dem kurz zuvor noch Häftlinge eingesessen hatten. Doch wir blieben nur wenige Tag dort. In Lastkähnen und Booten ging es den Tschulym stromabwärts bis zum Ob ins Gebiet von Tomsk.
Als wir am Bestimmungsort ankamen, standen Leute von der dort ansässigen Bevölkerung am hohen Flussufer. Sie dachten, wir wären deutsche Kriegsgefangene. Als sie unsere russischen Uniformen sahen und bemerkten, dass wir in militärischer Struktur, d. h. mit Offizieren und Unteroffizieren, die Deutsch sprachen, anrückten, wussten sie nicht, was sie von uns halten sollten. Wir waren nun ein Bau-Bataillon, das dort von Oktober 1941 bis Ende Dezember 1942 zum Holzeinschlag eingesetzt war. Wir wurden durch niemanden bewacht. Wir konnten uns als militärische Formation und darin als Einzelne relativ frei in den umliegenden sibirischen Siedlungen bewegen und Kontakte zur Bevölkerung haben. Besonders in den ersten Wochen war die Arbeit sehr schwer. Unsere Uniformen hielten die Kälte ungenügend ab, wir mussten uns erst an die ungewohnte Arbeit gewöhnen. Die Verpflegung war schlecht. Ich hatte Glück und wurde beim Verladen des Holzes am Fluss und beim Flößen eingesetzt. Diese Arbeit war nicht so schwer, wie der direkte Holzeinschlag in der fast undurchdringlichen Taiga, wo es auch am Tage ziemlich dunkel blieb und man nur über den Baumkronen den hellen Himmel sah.
1942 lernte ich meine Frau Maria kennen. Sie war Russin und 1930 mit ihren Eltern, die als Kulaken eingestuft wurden, vom Altai-Gebiet in die Nähe von Tomsk deportiert worden. Als die örtlichen Behörden von ihrer Verbindung zu mir, einem Deutschen, erfuhren, wurde sie als Lehrerin aus dem Schuldienst entlassen. Meiner Frau blieb nichts anderes übrig, als auch beim Holzeinschlag zu arbeiten. Am 1. Dezember 1942 wurde unsere Tochter Lydia geboren. Diese Jahre waren für uns alle ziemlich schwer. Doch wir waren jung. Der Lebenswille und die Hoffnung auf bessere Zeiten gaben uns den Mut und die Kraft, den täglichen Unbilden immer wieder zu trotzen.
Im Juni 1942 wurde plötzlich unser Bau-Bataillon demobilisiert und wir wurden gleichzeitig zur Arbeit in der Trudarmee mobilisiert. Unser Status änderte sich. Wir waren nun keine Armeeangehörigen mehr, sondern gehörten dem zivilen Bereich, dem Arbeitsdienst für Deutsche an. In der Praxis änderte sich damit für uns nichts. Wir machten die gleiche Arbeit weiter. Und es blieb die gleiche innere Hierarchie wie vordem bestehen. Um den Jahreswechsel 1942/43 kam dann plötzlich die Anordnung, dass alle Angehörigen des Lagers in den Ural nach Tscheljabinsk zur Arbeit in einem Bergwerk verlegt werden. Zum Zeitpunkt des Abtransportes war ich erkrankt und lag in der Krankenstation. Das war mein Glück. Ich konnte mit anderen Deutschen - wir zählten insgesamt 35 Mann - vor Ort bleiben. Man hörte, dass der KGB diese Leute ausgesondert hätte, man wollte sie nicht im Bergwerk haben.
Genaueres erfuhren wir nicht. Ich habe dann weiter beim Verladen und Flößen des Holzes bis April 1945 gearbeitet. Ich war Meister. Wir hatten engen Kontakt zu der Bevölkerung in den umliegenden Siedlungen. Trotz der schweren Arbeit hatten wir uns eingerichtet. Wir litten keinen Hunger. Einige von uns bemühten sich sogar mit den Dorfleuten, so etwas wie ein kulturelles Leben in den Siedlungen aufzubauen. Sie organisierten verschiedene Veranstaltungen, wo es musikalische Darbietungen und auch Tanz gab.
An eine Begebenheit erinnere ich mich in diesem Zusammenhang noch sehr deutlich. Eines Tages sagte mir mein russischer Chef von der Forstverwaltung, dass ich zu einer Veranstaltung in der Siedlung eingeladen sei. Es sollte u. a. ein Kulturprogramm mit anschließendem geselligen Beisammensein stattfinden.
Mein Mitarbeiter, der sich an diesem Abend um die Versorgung der Pferde kümmern sollte, verspätete sich aus irgendeinem Grund. Ich musste lange auf ihn warten. Als er endlich eintraf, war es schon fast dunkel. Ich machte mich eiligst auf den nicht kurzen Weg in die Siedlung. Als ich in der Siedlung ankam, sah ich durch die Fenster des Gemeinschaftshauses, dass die Veranstaltung schon im Gange war. Doch es sah mehr nach einer Versammlung als nach einem Kulturprogramm aus.
Mit einem Mal hatte ich keine Lust mehr hineinzugehen. Mein verspätetes Eintreffen und dieses Versammlungsforum mit Präsidium und so hatten mich irgendwie missmutig gemacht. Ich kehrte um und fuhr in meine Behausung zurück. Es war, als ob mich eine ungute Ahnung getrieben hätte. Am nächsten Tag erfuhr ich folgendes: Dem Kulturprogramm und dem geselligen Beisammensein war ein politischer Teil vorangesetzt worden. Der Vorsitzende des Gebietssowjets, ein Kriegsveteran, hielt, schon ziemlich angetrunken, eine Ansprache. Darin brachte er einen Toast auf den Sieg über die Hitlerfaschisten aus. Danach hielt er in seiner Rede inne, schaute in die Runde auf die Frauen und Männer die an den Tischen Platz genommen hatten. Plötzlich und ganz unvermittelt sagte er, dass alle Deutschen unverzüglich den Raum zu verlassen hätten. Es trat Totenstille ein. Niemand sagte ein Wort. Es gab auch kein Wort der Widerrede, auch nicht von den anwesenden Russen, die Seite an Seite mit den Deutschen an den Tischen saßen. Den Deutschen, die hauptsächlich diese Veranstaltung organisiert hatten, blieb nichts anderes übrig, als aufzustehen und den Saal zu verlassen. Was für eine Demütigung! Auch für mich, der nicht in den Saal gegangen war.
Im April 1945 wurden wir in die Stadt geholt und bei der Instandsetzung von Wohnungen eingesetzt. Ich gehörte einem Trupp an, der vor allem kaputte Öfen in Wohnungen wieder in Ordnung zu bringen hatte. Eine kurze Zeit lang war ich von meiner Frau und Tochter getrennt. Doch es wurde ihnen bald erlaubt nachzukommen. Jemand, der in der Partei was zu sagen hatte, hatte erfahren, dass ich von Beruf Zahnarzt sei. Ich wurde daraufhin von der Instandsetzungsarbeit befreit und konnte fortan als Zahntechniker in der 1. Poliklinik von Tomsk arbeiten. Nach fünf Jahren der Unterbrechung war ich damit wieder in meinem Beruf gelandet. Bis zu meiner Pensionierung konnte ich ihn dann auch ausüben.
1947 gab es die Bewegung "Spezialisten aufs Land". Sie traf vor allem die Deutschen in Tomsk, denn unter ihnen arbeiteten besonders viele in solchen Berufen. Wollte man die Deutschen aus den großen Städten heraus haben? Ich zog mit meiner Familie nach Asino, in eine kleine Stadt , knapp 100 km von Tomsk entfernt. Für die Deutschen war nach dem Kriege bis 1955 die Zeit der Kommandantur. Wir durften uns im Lande ohne behördliche Zustimmung nicht frei bewegen. Es bestand Arbeitsplatzbindung. Zuerst war das für mich und die anderen Deutschen in meinem Umfeld kein großes Problem. Man gab sich relativ großzügig. Ab 1948 wurde das Regime strenger. Zuerst mussten wir uns einmal, später sogar zweimal im Monat bei den Behörden melden. Ich spielte in der Fußballmannschaft von Asino als Torwart. Für die Auswärtsspiele war es nicht einfach, für mich immer die notwendige Genehmigung für die Fahrt in andere Orte zu bekommen. Doch als Torwart war ich ein wichtiger Spieler. Der Parteisekretär der Stadt war daran interessiert, dass "seine" Fußballmannschaft nicht verlor. Und so kam ich dann letztlich doch immer zu meinem "Propusk".
Von 1965 bis 1968 lebte ich mit meiner Familie in Frunse in Kirgisien. Wir hatten inzwischen drei Töchter. 1946 wurden noch Ljuba und 1959 Ludmila geboren. Wir waren nach Frunse gegangen, weil ich in der Nähe meines Bruders sein wollte. Er war dort als Arzt tätig. Vor dem Krieg hatte er Medizin studiert. In der Trudarmee hatte man Otto Dreit im Kreis seiner Kollegen in Frunse ihn wegen irgendeiner politischen Äußerung zur Zwangsarbeit nach Archangelsk verurteilt. In Frunse konnte ich in größerem Maße als bis dahin meinem künstlerischen Hobby nachgehen. Schon in Tomsk und dann vor allem auch in Asino kam ich mit dem Theaterspielen in Berührung. Ich bearbeitete und inszenierte kleine Stücke und probierte mich selbst als Schauspieler aus. In Frunse konnte ich all das noch mehr ausweiten.
Mit dem Volkstheater, dem ich angehörte, machten wir in der Stadt, aber auch im umliegenden Gebiet ganze Veranstaltungsreihen.
Doch unser Aufenthalt in Frunse dauerte nicht allzu lange, nur drei Jahre. Es gab für uns in Frunse keine Aussicht, eine eigene Wohnung zu bekommen. Und außerdem waren für mich die Arbeitsbedingungen nicht gut. 1968 haben wir uns deshalb entschlossen, in die Ukraine nach Dneprodserschinsk zu ziehen.
Seit 1994 bin ich in Deutschland. Meine Frau erkrankte zu Beginn der 90er Jahre an Krebs. Wir hatten große Hoffnung, dass man ihr in Deutschland doch noch helfen könnte. Leider ist sie kurz vor der Ausreise verstorben. Mit mir hier in Deutschland ist eine meiner Töchter. Es ist für mich wichtig, dass sie im Alter bei mir in der Nähe ist. In den letzten Jahren habe ich in Berlin an verschiedenen sozialen Projekten mitgearbeitet. Die Integration von Russlanddeutschen in die deutsche Gesellschaft ist keine leichte Aufgabe. Da bleibt noch vieles zu tun. Solange ich kann, will ich meinen Beitrag leisten.