Geschichte der Russlanddeutschen

8 Kulturarchiv

8.2.5 Schicksalswege — Erinnerungen

8.2.5.3.21 Alexander Gidion

Ich wurde 1984 im Dorf Oktjabrskoje in Sibirien im Altai-Gebiet geboren. Seit 1996 leben meine Eltern, meine jüngere Schwester und ich in Berlin. Vier Jahre sind nicht viel. Dennoch ist in dieser Zeit für mich eine Menge passiert. Mein Leben hat sich ganz schön verändert. Der Wechsel vom Dorf in die Großstadt, die Umsiedlung von dem einen Land in das andere. Die unterschiedlichen Erlebnisse und Erinnerungen liegen dabei oft ganz eng beieinander. Manches aus Oktjabrskoje ist mir noch so nah, als ob es erst gestern war. Bei anderem wiederum merke ich schon, wie sich langsam ein Abstand auftut und die Erinnerung undeutlicher wird. Und täglich kommt Neues auf mich zu. Wenn ich manchmal in ruhigen Augenblicken die Ereignisse in mir vorüberziehen sehe, staune ich selbst, wie schnell diese Veränderungen vor sich gegangen sind. Ich glaube zu träumen; doch es ist die Wirklichkeit.

Die erste große Herausforderung stellte für mich als Schüler die deutsche Schule dar. Wir kamen hier im November an. In Oktjabrskoje hatte ich die 5. Klasse beendet. Hier in Deutschland habe ich noch einmal die 5. Klasse durchlaufen. Ich wollte die Möglichkeit haben, richtig Deutsch zu lernen und das fehlende Jahr Englisch nachzuholen, das ab dieser Klasse Pflichtfach ist. In Oktjabrskoje hatten wir noch keinen Englischunterricht.

Deutsch konnte ich ein bisschen verstehen. Meine Eltern sprachen auch zu Hause in Oktjabrskoje oft Deutsch. Die meisten Einwohner des Dorfes waren Russlanddeutsche. Sprechen konnte ich jedoch nur sehr wenig. Natürlich hatte ich zuerst hier in der Schule aufgrund der ungenügenden Sprachkenntnisse Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen und mich auszudrücken. Doch ich habe schnell gelernt. Ich nahm wie andere Aussiedler am Förderunterricht teil. Ich konnte mich immer an die Lehrer wenden, wenn ich etwas nicht verstanden hatte. Sie waren geduldig und halfen mir. Gut hat sich auch ausgewirkt, dass in meiner Klasse nur zwei weitere russlanddeutsche Mitschüler waren. Diese lebten schon längere Zeit hier und sprachen schon gut Deutsch. Sie versuchten nicht, mit mir überwiegend Russisch zu sprechen. So wurde ich gezwungen, auch im Umgang mit ihnen in der mir noch fremden Sprache zurechtzukommen. Damals war ich darüber nicht so erfreut. Aus heutiger Sicht kann ich jedoch sagen: Das hat mir geholfen, die Sprachbarriere ziemlich schnell zu überwinden. Natürlich spreche ich jetzt immer noch etwas holprig. Doch das Schwierigste liegt wohl in dieser Beziehung hinter mir. Was den Unterrichtsstoff und die Art des Unterrichts anbelangt, hatte ich weniger Schwierigkeiten.

Ich konnte feststellen, dass in Russland in den unteren und mittleren Klassen der Lehrplan voller ist und die Schüler mehr lernen, in Mathe, Biologie und so. Die Lehrer sind dort im Allgemeinen strenger. Schon bei geringen Vergehen bekommt man eine Ermahnung oder einen Tadel. Sie wollen eine strengere Disziplin durchsetzen. Hier in Deutschland können wir Schüler durchaus dazwischenquatschen, laut sein und ohne Folgen Dinge machen, die dort bestraft werden. Ich habe mich aber schon auf die neue Situation eingestellt.

Die einheimischen Mitschüler in der Klasse nahmen mich - wie soll ich sagen - ziemlich normal auf. Sie feierten zur Begrüßung keine Feste, doch es gab auch keine hässlichen Bemerkungen. Ich wurde auch nicht geschnitten. Ich wurde als einer akzeptiert, der aus Russland kommt und die Sprache noch nicht so richtig kann. In der ersten Zeit verhielt ich mich nicht nur der Sprache wegen ziemlich zurückhaltend. Ich musste erst sehen, wie die Dinge so laufen, und hatte mich an die neuen Verhältnisse zu gewöhnen.
beim volleyball-spiel im sportklub, in berlin (1998)

Außerhalb der Klasse war die Situation allerdings ein bisschen anders. Da wurde ich schon des Öfteren von Jungs anderer Klassen angepöbelt. Sie fragten mich provokativ, was ich hier als Russe in Deutschland eigentlich wolle. Und sie forderten mich auf, doch schnell wieder dorthin zurückzukehren, wo ich hergekommen wäre. Wie gesagt, dass passierte damals. Mittlerweile kommt das nur noch selten vor. Ich bin selbstsicherer geworden und lasse keinen Zweifel aufkommen, dass ich jetzt hier in Berlin mein Zuhause sehe. Ich habe einheimische Kumpels, mit denen ich in der Schule und im Sport zusammen bin. Da spielt meine Herkunft fast gar keine Rolle mehr. Wenn ich mal von Schule und Sport absehe, bin ich jedoch vor allem mit russlanddeutschen Kumpels zusammen. Warum das so ist, dazu werde ich später noch etwas sagen.

Vorher will ich noch über meinen Sport reden. Zuerst habe ich in einem Sportklub Volleyball gespielt. Sport mochte ich schon immer. In Oktjabrskoje haben wir auch oft Ball gespielt. Die Bedingungen waren allerdings nicht so gut. Kein Training, nur ab und zu mal ein richtiges Spiel mit einem Schiedsrichter. Ganz anders die Bedingungen hier, wo ich jetzt wohne: eine moderne Sporthalle, Umkleideräume und Duschkabinen.

Diese Top-Bedingungen, das wöchentliche Training unter Anleitung eines Übungsleiters und das Gefühl, einer Gruppe bzw. Mannschaft anzugehören, in der jeder Einzelne ernst genommen wird und zeigen kann, was er drauf hat - all das hat mir sehr gefallen. Durch den Volleyball ist es mir auch leichter gefallen, Hemmungen und Unsicherheiten im Umgang mit den Einheimischen abzulegen.

Jetzt bin ich beim Taekwondo und beim Kickboxen. Auch das macht mir Riesenspaß. Hier ist mehr der Einzelkämpfer gefragt. Sich mal in einer brenzligen Situation wirkungsvoll selbst verteidigen zu können, das ist für mich schon eine tolle Sache. Da möchte ich schon eine Menge draufhaben. Ich freue mich immer, wenn ich da neue Dinge hinzulerne.

Mein Vater hat in Oktjabrskoje als Traktorist auf dem Kolchos gearbeitet. Mutter war Kindergärtnerin. In Deutschland ist es für sie schwer, Arbeit zu finden.
Winterlandschaft in Sibirien
Vater hat eine Umschulung zum Maler gemacht. Nach längerem Suchen hat er in einer kleinen Firma einen Job gefunden. Mutti sucht noch. Ab und zu geht sie Putzen. Großmutter, Muttis Mutter, lebte schon seit 1995 in Berlin. Sie ist inzwischen leider verstorben. Viele Geschwister von meinem Vater und meiner Mutter sind ebenfalls nach Deutschland umgesiedelt. Das war übrigens auch einer der Hauptgründe, warum meine Eltern sich ebenfalls dazu entschlossen haben, hierher zu kommen. Außerdem sagen sie, dass sie es für uns Kinder, für meine Schwester und für mich, getan haben. Sie wollten nicht, dass ich vielleicht in meiner Armeezeit in Russland zum Krieg nach Tschetschenien oder anderswohin hätte gehen müssen. Sie denken, dass in Deutschland mir so etwas erspart bliebe und wir Kinder eine bessere Zukunft als in Russland hätten. Das sehe ich auch so. Doch ich bemerke auch, dass es meinen Eltern und den Älteren von den Russlanddeutschen schwerer als uns Jungen fällt, hier schnell heimisch zu werden.

Meine Eltern haben sich vor ein paar Monaten getrennt. Papa ist ausgezogen und hat sich in einem anderen Stadtteil eine neue Wohnung gesucht. Es ging zwischen den beiden nicht mehr. Immer dieser Zank und dieser Streit. Ich glaube, dass die Trennung richtig war. Doch ich will darüber nicht weiter reden ...

Hin und wieder gehe ich arbeiten. Bestimmte Sachen, besonders Markenklamotten, die ich unbedingt brauche, muss ich mir selbst mit eigenem Geld kaufen. In den letzten Wochen habe ich mehrere Male als Statist bei Filmaufnahmen mitgemacht. Das war nicht schlecht. Es war interessant für mich, aus unmittelbarer Nähe mitzuerleben, wie ein Film gedreht wird. Und die Arbeit als Statist ist nicht schwer. Im allgemeinen ist es nicht so einfach, etwas zum Geldverdienen zu finden. Ab und zu habe ich als Hilfskraft auf dem Bau gearbeitet. Da gibt es bestimmte Kontaktpersonen, die einem so einen Job vermitteln.

Wie schon gesagt, wenn ich nicht beim Sport bin, verbringe ich meine Freizeit in unserer Kompanija. Wir sind so etwa 20 Jugendliche, alles Russlanddeutsche, die sich regelmäßig treffen. Wir quatschen miteinander, gehen ins Kino und zur Disko, meistens zu der, die als allgemeiner Treffpunkt der Russlanddeutschen bekannt ist. Dort gibt es russische Diskjockeys und russische Pop-Musik. Wir wollen uns nicht von den einheimischen Jugendlichen absondern. Aber das ergibt sich ganz automatisch. Irgendwie ist der Zusammenhalt zwischen den Russlanddeutschen stärker. Bei den Einheimischen ist jeder mehr für sich. Sie sprechen nicht so freimütig über persönliche Dinge. Sie sind verschlossener und zurückhaltender. Und sie sind weniger hilfsbereit. Vielleicht nicht alle, aber doch die meisten. Außerdem können wir untereinander besser über unsere Probleme hier und darüber reden, wie es zu Hause in Sibirien und Russland war.

Mir gefällt das meiste in Deutschland, besonders die schönen Häuser, all die moderne Technik, die tollen Autos und so. Und man kann alles in den Geschäften bekommen. Doch es gibt auch die Dinge, die ich und meine Kumpel ziemlich vermissen. Wir haben oft Sehnsucht nach dem sibirischen Winter, nach dem vielen Schnee und dem strengen Frost. Gern würde ich wieder auf dem zugefrorenen See bei uns in der Nähe des Dorfes Schlittschuh laufen, mit dem Schlitten den steilen Abhang hinunterfahren und mit den dortigen Jungs im tiefen Schnee herumbalgen. Auch im Sommer war es dort toll. Wir gingen mehrmals in der Woche angeln und saßen am Lagerfeuer. Wir sammelten Pilze und kochten Pilzsuppe.

Hier in Deutschland und besonders in der Stadt ist manches so kompliziert. Zum Angeln braucht man einen Angelschein. Und es ist nicht so einfach gestattet, ein Lagerfeuer anzuzünden. Wenn wir mal so etwas trotzdem tun, kommt gleich die Polizei. Da fühle ich mich schon ein bisschen eingeengt. Ich möchte einmal zur Kriminalpolizei. Ich sehe gern Actionfilme.

Als Kommissar komplizierte Fälle zu lösen und für Recht und Ordnung zu sorgen, da würde ich mich schon später gern sehen. Ich weiß, der Weg dahin ist weit und nicht einfach. In der Schule bin ich guter Durchschnitt. Mal besser, mal schlechter. Das Lernen fällt mir nicht schwer. Manchmal bringe ich aber noch nicht den nötigen Fleiß auf. Zuweilen sind mir andere Dinge um mich herum wichtiger als die Hausaufgaben. Doch wenn es dann ernster wird und ich gute Noten zur Verwirklichung meines Berufswunsches brauche, werde ich bestimmt mehr für die Schule tun.

Ja, wie ich schon sagte, in den letzten vier Jahren ist schon bei mir viel passiert. Manchmal kann ich es gar nicht so recht glauben.
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